Bodenzeichen und Raumzeichen
Minimalistische Grabmale von Thomas Westerhellweg

Nicht das Wort stand am Anfang, sondern Zahlen und Buchstaben. In ihrer Anordnung folgen sie zwar einem geometrischen Schema, jedoch keiner sprachlichen Ordnung. Ausgebreitet auf dem Fußboden der Hochschule für angewandte Kunst im sächsischen Schneeberg, beschreiben Buchstaben und Zahlen eine rechteckige Fläche. Sie ergeben aber keinen verständlichen Text. Im zeilenfreien Buchstabenteppich haben die Schriftzeichen in mehrfacher Hinsicht ihre Beziehung zum Bezeichneten aufgegeben. Sie verweisen nur noch auf sich selbst.
Der Gegensatz zwischen Ordnung und Unordnung scheint zunächst verwirrend. Doch bei der Suche nach einer Systematik finden sich auch Regelmäßigkeiten. Hinter einer vordergründigen Beliebigkeit wird eine begrenzte Auswahl an Buchstabentypen sichtbar, wenn diese zunächst auch nur der Zufall bestimmt hat. Offensichtlich ist, dass das auf seinen Befestigungsschrauben tanzende, unvollständige Bronzealphabet nicht für diesen Ort erschaffen wurde. Es wurde hier zwar zusammengetragen, seine Patina hat es jedoch anderswo erworben. Möglicherweise an einer Stelle, an der seine Verwendung reinen Mitteilungszwecken diente und nicht künstlerischer Ornamentik. Geordnet nach Größe und Schrifttyp könnten sich aus dem Buchstabenwirrwarr noch immer Worte, Namen und Daten ergeben, und in Verbindung mit den beiliegenden stern- und kreuzförmigen Symbolen würden sich damit Ereignisse bezeichnen lassen.
Die konkreten Anlässe der Beschriftungen lassen sich damit nicht mehr rekonstruieren. Hätten sich diese Geschehnisse zwischenzeitlich nicht als belanglos erwiesen, befänden sich die metallenen Zeichensysteme zweifellos noch in situ - auf den Grabstätten der Verstorbenen, deren Andenken sie ehemals bewahren sollten. Thomas Westerhellweg sammelte die Buchstaben auf den Abraumhalden der Friedhöfe und Steinmetzbetriebe. In seiner Arbeit „Buchstabenfeld" löste er die früher pragmatische Semantik der Buchstaben auf und ersetzte sie durch eine symbolische.
Das Buchstabenfeld war eines der ersten Arbeitsergebnisse im Rahmen seiner Diplomarbeit. Als Abschlussarbeit im Bereich Holzgestaltung bei Prof. Gerd Kaden wollte er Holzgrabzeichen entwickeln. Ohne die bestehenden gestalterischen Einschränkungen der Friedhofssatzungen und tradierte Sehgewohnheiten breiterer Bevölkerungsschichten zu berücksichtigen, suchte er nach Alternativen zu den vorhandenen Standardgrabmälern, die schon aus formalästhetischen Gründen seinem künstlerischen Anliegen nicht genügten. Noch problematischer als die sinnentleerte Formensprache der gegenwärtigen seriellen Grabmalgestaltung empfand er die Diskrepanz zwischen dem Wunsch, mittels Grabmalen aus verwitterungsbeständigen Materialien das Andenken an geliebte Verstorbene auf ewig zu bewahren und der Wirklichkeit, in der die Mehrzahl der Grabsteine nach Ablauf der Nutzungsrechte an der Grabstätte weggeworfen werden.
Das Buchstabenfeld dokumentierte somit als künstlerische Bestandsaufnahme die gedankenlosen Verfahrensweisen mit materiellen, geistigen und emotionalen Ressourcen. Für die hölzernen Bodenzeichen und Raumzeichen bildet es den entscheidenden Ausgangspunkt.
Die Erkenntnis, dass die Kennzeichnung des Grabes die Chance bietet, durch die direkte und sich wiederholende Konfrontation mit der Verlusterfahrung den Verlust eines Menschen akzeptieren zu lernen, ist nicht neu. Die Frage ist, mit welchen ästhetischen Mitteln kann Bildhauerei diesen Prozess in Gang zu setzen? Darüber hinaus galt es zu klären, welche Formen sich heutzutage zur Markierung des Ortes eignen, an dem sich Trauer und Gedenken schon alleine durch die leibliche Nähe zum Verstorbenen in ganz besonderer Weise fokussieren, und wie sich die Endlichkeit und Begrenzung menschlichen Daseins erfahrbar machen lässt.
Da kein Auftrag für ein individuelles Grabmal vorlag, blieb dem Bildhauer ein großer subjektiver Spielraum. Doch gleichzeitig sollten die Ergebnisse im Hinblick auf ihre Eignung als Grabzeichen nachvollziehbar sein. Das Spannende an der Fragestellung war außerdem, dass sich Thomas Westerhellweg weder an der gegenwärtigen Tendenz orientieren wollte, Grabmale zur lnitiierung neuer Traurituale zu verwenden, noch auf die gängige, illustrative Sepulkralsymbolik zurückgreifen wollte. Deshalb setzte er im Vorfeld seiner Arbeit „Bodenzeichen" nicht bei einer ikonografischen Analyse zeitgenössischer Todesbilder an, sondern am Grab als einem durch Emotionen besetzten Ort.
Ihre besondere Bedeutung erwächst der Grabstätte aus der schlichten Tatsache, dass sie die Stelle ist, an der der Leichnam beigesetzt wurde. Das Grab wird somit in der Vorstellung zum Refugium, das dem Toten vorbehalten bleibt und das deshalb in besonderer Weise gekennzeichnet werden muss. Die Motive, ein Zeichen zu errichten oder die Grabstätte einzufassen und damit deutlich von der Umgebung auszuscheiden und abzugrenzen, entspringen dem Unbewussten. Sie sind aus rationaler Sicht kaum zu erklären. Interessanterweise denkt man sich das Grab, das in der Regel als Fläche in Erscheinung tritt, als Raum. Dass zur Kennzeichnung eines Grabes eine Form gewählt werden könnte, die Raum umschreibt, ist damit naheliegend.
Dieser Raum dient dem Toten zum Schutz. Im Leichnam eines Menschen sieht man sehr häufig noch die Person, die dann, durch den Tod sämtlicher Handlungsmöglichkeiten beraubt, in höchstem Maße schutzlos erscheint. Der Tod eines Menschen kann darüber hinaus von den Angehörigen als Scheitern und Versagen empfunden werden, da sie den Verstorbenen nicht vor seinem Schicksal bewahren konnten. Wenn dann die Vorstellung, dass wenigstens der Tote sorgsam beschützt und behütet ist, im Umgang mit dem Beisetzungsort einen Ausdruck findet, kann das möglicherweise zur gefühlsmäßigen Entlastung der Angehörigen beitragen.
Pragmatische Lösungen dieses gestalterischen Problems, wie beispielsweise Grabstättenvollabdeckung, gibt es zuhauf. Was man bei ihnen im Gegensatz zu den Arbeiten Thomas Westerhellwegs vermisst, sind die Konzentration auf das Wesentliche und die Verdichtung inhaltlicher und emotionaler Aspekte. Dass sich die Gedanken und Gefühle, die die Beschäftigung mit dem Thema Tod und Gedenken bei Bildhauer Westerhellweg evozierten, unaufdringlich und äußerst subtil in Form und Material konkretisieren, zeichnet seine minimalistischen Grabzeichen aus. Deutlich spürt man sein Bestreben, den Tod und den Toten möglichst ganzheitlich anzunehmen und in Skulptur zu übersetzen. Ohne konkreten Trauerfall bleibt sein Anliegen sicherlich ein Stück weit fiktiv. Aber seine Bodenzeichen und Raumzeichen sollen und wollen niemals ein Einzelschicksal kommentieren. Sie bleiben deshalb weitestgehend abstrakt, streben dadurch jedoch nach einer größeren Gültigkeit.



Bodenzeichen und Raumzeichen definieren als Holzskulpturen zunächst Räume. Diese Räume bleiben symbolisch dem Toten vorbehalten. Das Symbol des Hauses, als ein abgeschlossener Bezirk, der dem Menschen eine Mitte gibt, drängt sich auf. Behausungen waren in früheren Kulturen geweihte Bezirke, in den auch Verstorbene beigesetzt wurden und noch die Römer bezeichneten das Grab als „domus aeterna". Wie eine Grabkammer umschließt dann auch das erste Bodenzeichen als hölzerner kubischer Mantel einen rechteckigen Innenraum. Das Verhältnis der Seiten unterstreicht deutlich die Längsrichtung des Grundrisses. Stirn- und Längsseiten, oben und unten werden dadurch klar definiert. An den Längsseiten ragen jeweils vier rippenförmige Elemente hervor. Das Volumen der Zwischenräume entspricht exakt dem Inhalt der vorspringenden Wandvorlagen. Positive und negative Volumina wechseln dadurch in gleichmäßigem, harten Takt. Wie die Strebepfeiler eines mittelalterlichen Kirchenbaus stabilisieren sie die Seitenwände des Grabzeichens. Trutzig stellen sie sich der äußeren Umgebung des Grabzeichens entgegen, dessen Inneres schützend vor der Außenwelt bewahrt werden soll.
Die Bezüge zu mittelalterlichen Sakralbauten sind keinesfalls zufällig gewählt. Kirchenräume dienten als privilegierte Bestattungsorte, da sie, durch die unmittelbare Nähe zu den Reliquien der Heiligen, den Toten im besonderen Maße Schutz versprachen. Obwohl sich das Grabzeichen, rasenbündig im Erdreich eingegraben, in seiner Tiefenabmessung nicht mehr erschließen lässt, bleibt dieser Eindruck erhalten. Denn in ihrer Anmutung erinnert die zweidimensional sichtbare und dennoch massive hölzerne Markierung unweigerlich an das Fundament eines auf das Wesentliche reduzierten Kirchenbaus.
Entschlüsseln lassen sich ursprüngliche Form und Abmessungen nur über die Druckgrafiken, die Westerhellweg vom Bodenzeichen fertigte. Sie sind Bestandteil des Gesamtkonzepts, in dem öffentliches Gedenken auf dem Friedhof mit dem Wunsch, das Andenken an den Verstorbenen in der häuslichen Privatsphäre zu bewahren, verknüpft werden soll. Hierbei diente das Objekt selbst als Druckstock. Die Abdrücke der einzelnen Seiten dokumentieren die wahren räumlichen Dimensionen des Grabmals und das sehr viel direkter und unmittelbarer, als es Fotografien zu leisten vermögen. Hinsichtlich der Anschaulichkeit wären Fotografien den Holzschnitten zweifellos überlegen, doch den Grad an Authentizität, den die Drucke durch ihre (vergangene) Berührung des Gedenkzeichens erlangen, können die profanen technischen Abbilder niemals erreichen.
Wie das erste Bodenzeichen galten auch dessen Variationen dem individuellen Totengedenken. Für eine zweistellige Grabstätte verdoppelte Westerhellweg das Grundmotiv. Bei den anderen Zeichen brach er die hermetisch geschlossene Figur auf, thematisierte die Verbindung zwischen Diesseits und Jenseits und damit die Möglichkeit eines symbolischen Austausches zwischen beiden Welten.
Im Gegensatz zu den zweidimensionalen Grabmarkierungen versteht Westerhellweg die drei sogenannten Raumzeichen als überindividuelles Grabmal für ein Gemeinschaftsgrabfeld. Die drei würfelförmigen Holzobjekte bilden konzeptionell eine Einheit. Aufgesockelt auf gleich hohen Stahlgestellen wirken die Kuben mit identischen Abmessungen und dem Einschnitt am rechten Rand der Hauptansichtsseite wie exakte Vervielfältigungen eines Grundmodells. Erst eine eingehende Betrachtung lässt Unterschiede bei der äußeren und inneren Struktur deutlich werden. Die Holzelemente weisen im Hinblick auf ihre Maserung selbst dann Unterschiede auf, wenn sie aus demselben Stamm geschnitten wurden. Darüber hinaus hinterließ die Kettensäge, die wie bei den Bodenzeichen als alleiniges Werkzeug zur Bearbeitung eingesetzt wurde, in den Oberflächen individuelle Spuren.
Blickt man dann durch den vertikalen Einschnitt in das Innere der Skulpturen, stellt man fest, dass sich die Gliederung der Innenräume grundlegend voneinander unterscheidet. Zwar wird der Blickwinkel durch den schmalen Spalt stark eingeengt. Dennoch erkennt man, dass die Innenräume durch Trennwände untergliedert sind, die die Sicht nochmals einengen, beziehungsweise ganz versperren. Auch bei den Raumzeichen bleiben dem Betrachter die Strukturen der Innenräume weitestgehend verborgen, die gewählte Präsentationshöhe verhindert die Draufsicht auf die nach oben offenen Arbeiten.
Obwohl das Motiv der Wand als gestalterisches Grundelement die Arbeiten Westerhellwegs beherrscht, sind die Räume, die die Boden- und Raumzeichen beschreiben, keine zusammengesetzten Konstruktionen. Obwohl die Objekte Architektur zitieren, bleiben sie dennoch immer Skulptur. Der Wunsch Westerhellwegs, schon in den Arbeitsabläufen Ganzheitlichkeit überzeugend zum Ausdruck zu bringen, lässt produktionstechnisch bedingten Pragmatismus nicht zu. Also schnitt Westerhellweg seine Grabzeichen aus den zylindrischen Abschnitten eines Eichenstammes. Die jeweiligen Kammern entstanden anschließend durch aufwendiges Entfernen von Material aus der Mitte der Blöcke. Das Verleimen einzelner Holzbohlen wäre aus ökonomischer Sicht sinnvoller gewesen, vom künstlerischen Standpunkt aus jedoch inkonsequent und somit für Westerhellweg inakzeptabel. Denn einerseits würde die künstlerische Idee durch den vollkommen andersartigen Werkprozess grundlegend infrage gestellt, andererseits hätte sich auch das Werk, trotz gleicher äußerer Form, maßgeblich verändert, da die Fugen bei der reduzierten Formensprache zu sehr an Bedeutung gewonnen hätten.
Bei seinem künstlerischen Anliegen war es unabdingbar, auf frisches Eichenholz zurückzugreifen. Ältere, abgelagerte Blöcke hätten durch den Trocknungsprozess Risse aufgewiesen, diese wiederum hätten als Ausdrucksträger Deutungen in eine andere Richtung gelenkt. Zur Bearbeitung frischen Holzes eignet sich die Kettensäge in ganz besonderer Weise. Somit sind die ruppigen Spuren, die sie als Werkzeug bei der Ausarbeitung der Holzskulpturen hinterließ, nicht dekorative Oberflächengestaltung, sondern materialbedingt und Ergebnis eines auf spezielle Werkstoffeigenschaften ausgerichteten Entstehungsprozesses.
In Anbetracht der stringenten Konzeption ist es überraschend, wie sehr sich ThomasWesterhellweg von den Eigenschaften des Werkstoffs leiten ließ. Bei der Gliederung und Gewichtung der Volumen richtete er sich nach dem Umfang der einzelnen Stämme. Aus deren Durchmesser leitete er die Proportionen der Grabzeichen ab. Doch trotz harter formaler Setzungen und konsequenter geometrischer Strenge ahnt man in seinen Arbeiten den Respekt vor dem Baum, der als traditionelles „alter ego“ des Menschen in den Jahresringen in seiner ursprünglichen Einheit sichtbar bleibt.
Das frische, feuchte Eichenholz behält sicherlich lange Zeit seine Dimensionen bei, wenn es, wie die Bodenzeichen, in feuchter Erde eingelassen wird. Die Gefahr, dass es einreißen und seine Form verändern wird, besteht kaum. Nach und nach wird es sich jedoch auflösen und in Humus verwandeln; seiner stillen, unaufdringlichen Form entsprechend langsam und unauffällig. Dieser Vorgang setzt an der sichtbaren Oberseite, die mit der Luft in Berührung kommt, ein. Erst nach Jahren werden die Zeichen vollständig vergangen sein, das heißt, sie werden den Blicken entzogen, im Erdreich lange Zeit weiterexistieren.


Auch die Raumzeichen werden vergehen, doch schon heute steht fest, dass dieser Vorgang einen anderen Verlauf nehmen wird. Den Unbilden der Witterung ausgesetzt, werden sie ausbleichen. Ihre Oberfläche wird rissig werden, die Gerbsäure des Eichenholzes wird mit dem rostenden Metall der Sockelplatten reagieren. Von der Lagerfuge zwischen Skulptur und Sockel ausgehend, werden bläulich-schwarze Verfärbungen durch die Holzfasern nach oben wandern. Möglicherweise verbreitern sich auch die Einschnitte, durch die man ins Innere der Raumzeichen blicken kann. Doch sie werden sich ebenso wie die Bodenzeichen nie vollständig dem Betrachter offenbaren und dadurch weiterhin rätselhaft und geheimnisvoll bleiben.
Gerold Eppler